Nachkriegszeit mit Typhus

Als unsere Praskowitzer Rosenkranz-Familie (oder das, was von ihr übrig geblieben war) nach der Vertreibung aus der Heimat und langem Suchen und Umherirren in Deutschland im Jahre 1946 endlich wieder zusammengefunden hatte, erhielten wir auf einer Domäne im kleinen Ort Hohnsdorf bei Halle / Saale eine Stube.

Im Dorf gab es jedoch keine Arbeit für uns. Deshalb wurde ich als Näherin in einem kunstgewerblichem Betrieb, der Firma Heinz Brose in benachbarten Köthen, tätig. Um dorthin zu gelangen, musste ich aber zuerst eine 3/4 Stunde bis zur Bushaltestelle laufen.
Das geschah übrigens auch im Winter bei Eis, Schnee und Regen ohne festes Schuhwerk - ich habe mir damals aus alten Säcken, welche ich in der Scheune der Domäne fand, Streifen geschnitten und sie um meine undichten Schuhe gewickelt. Ein Paar hatte ich bloß. Der Bus nach Köthen fuhr sehr unregelmäßig und hatte oft Verspätung; ein Wartehäuschen zum Unterstellen gab es nicht.

Leichter wurde es für mich, als ich irgendwann eine Aufenthaltsgenehmigung für Köthen erhielt.
Durch Vermittlung einer Arbeitskollegin hatte ich vorher ein kleines Zimmer zur Untermiete bei einer Geschäftsfrau in der Burgstraße gefunden, wo ich mich jedoch sehr einschränken musste und mich kaum zu rühren traute.
Das Zimmer war nur durch die Küche zu erreichen, doch war ich damals sehr froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Sogar die Einrichtung wurde mir gestellt.
Mit der Kocherei musste ich allerdings stets warten, bis die Wirtsleute mit ihrer Mahlzeit fertig waren. Auch hatte ich mich an der Küchenreinigung zu beteiligen, ob ich gekocht hatte oder nicht. Besuche durfte ich auch keine haben; nicht einmal meine Arbeitskollegin konnte zu mir kommen. Aber ab und zu bekam ich Essensreste geschenkt. Das war damals wichtig!

Der Verdienst war sehr gering, aber da ich sparsam war, konnte ich mir endlich nach und nach auch einige Haushaltsgegenstände anschaffen.

Eines Tages, es war 1947, erhielt ich von einer Krankenschwester aus Halle Nachricht, dass meine Eltern krank darnieder lagen. Sie waren inzwischen in eine Barackensiedlung am Rande der Saalestadt umgezogen, weil mein Vater hier bei der Bahn Arbeit gefunden hatte. Die Lebensbedingungen in diesem für Vertriebene und Ausgebombte errichteten Lager waren aber natürlich alles andere als schön – ein guter Nährboden für Krankheiten aller Art.

Ich fuhr sofort zu ihnen und war über ihren gesundheitlichen Zustand sehr erschrocken. Beide hatten Fieber und Durchfall. Mein Vater phantasierte viel und sprach dabei nur noch russisch. Vermutlich ging ihm die Zeit im Kopfe herum, in der er im 1. Weltkrieg als Gefangener in Sibirien war. Mutter war sehr ruhig, fast apathisch.
Ein von mir alarmierter Arzt diagnostizierte Typhus, eine schwere Durchfallerkrankung. Er wies meine Eltern gleich in die Isolierstation der Halleschen Universitätskliniken ein.

Inzwischen hatte auch ich Fieber bekommen. Ich wollte mich aber erst in Köthen bei meinem Betrieb krank melden und ging dann dort zum Arzt, der mich auf Grund meines Berichtes und Typhusverdachtes ohne weitere Untersuchung in ein Köthener Krankenhaus schickte. Ich sollte mich bis Mittag dort melden, oder die Polizei würde mich holen.

Ich wollte aber um jeden Preis zu meinen Eltern. Um in keine Polizeiaktion zu kommen, lief ich bis vor die Stadtgrenzen und hielt dann einen LKW an. Der Fahrer nahm mich einige Kilometer mit, und dann ich musste ich sehr weit laufen. Der Bus von Trebichau nach Halle war schon weg. Damals traf man aber unterwegs immer Leute mit Fahrzeugen, die Kartoffeln gestoppelt hatten oder auf „Hamstertour“ waren - auf so einem offenen Auto erwischte ich noch einen freien Platz und konnte zwischen all den „Hamsterern“ bis nach Halle fahren. Mit der Straßenbahn gelangte ich dann bis in die Nähe des Barackenlagers.

Im Zimmer meiner Eltern ordnete ich noch ein paar Dinge und brachte - zum Glück - einige unserer Habseligkeiten in eine andere Baracke zu Bekannten aus der Heimat, die auch in Halle-Dimitz untergekommen waren. Etliches wurde dann wirklich während unseres Klinikaufenthaltes gestohlen, denn die Schlüssel passten damals überall.

Spät abends meldete ich mich am 10. Oktober in der Klinik, wo meine Eltern untergebracht waren. Ich wurde nach meiner Einweisung registriert, gebadet und bekam ein Bett. Am nächsten Tag stellten die Ärzte auch bei mir Typhus fest. Nun wurde ich in das Zimmer meiner Mutter gebracht.
An die folgenden Tage kann ich mich kaum noch erinnern. Mir wurde erzählt, dass ich längere Zeit hohes Fieber (bis 41,8 Grad) hatte und immer wieder in eiskalte Bettlaken gewickelt wurde.
Weil ich so unruhig war und damit ich nicht aus dem Bett fiel, waren an den dessen Seiten Bretter angebracht worden. Meine Mutter, obwohl selbst krank, versuchte mich in dieser Zeit zu betreuen - ich musste künstlich ernährt werden, damit mein Körper durch den ständigen Durchfall nicht völlig austrocknete.
Wir waren schon vier Wochen in diesem Zimmer, als plötzlich alle Läuse bekamen. Auch mir wurde eine Lausekappe angelegt.

In dem Saal lagen noch 5 Frauen und ein Kleinkind. Damit die anderen Patienten wenigstens nachts etwas schlafen konnten, wurde ich, die ich ständig laut phantasierte, abends immer mit dem Bett in das Schwesternzimmer gefahren, und früh wieder zurück gebracht.

Durch das andauernde hohe Fieber ging es mir schlechter und schlechter - ich wurde immer stiller und matter. Weil ich katholisch war, bekam ich eines Abends im Schwesternzimmer die letzte Ölung von einem Pfarrer, den man verständigt hatte.
In dieser Nacht war mir, als schwebte ich durch einen langen Gang, an dessen Ende Lichter leuchteten. Es war plötzlich überall ganz hell, freundlich, ruhig ... Mich überkam ein sehr angenehmes Gefühl; ich hatte plötzlich keine Schmerzen mehr.

Am nächsten Morgen erzählte die Nachtschwester Brigitte meiner Mutter, dass ich schon kalt geworden war und kaum noch Puls hatte, weshalb sie einen Arzt gerufen hätte, der mir eine Spritze gab und mein Herz massierte. Schwester Brigitte musste dabei meine Beine mit Wärmflaschen bedecken. Sie hat auch an meinem Bett für mich gebetet, sagte sie, weil ich doch noch so jung war.
An diesem Tag habe ich zum ersten Mal wieder klar und deutlich gesprochen: „Wo bin ich?“, und wollte zu meiner Mutter."

Es wurde dann aber noch eine schwere Zeit für mich, denn ich bekam am Oberschenkel plötzlich einen Abszess, der geschnitten werden musste.
In der Genesungszeit hatten wir alle viel Hunger, und als wir wieder richtig essen konnten, habe nicht nur ich - an diesen Anfall von Fresssucht erinnere ich mich bis heute - 20 kleine Kartoffeln mit Soße auf einmal verzehrt. Fett oder Fleisch gab es damals ja kaum für uns.

Wir Typhuskranken mussten an einem Tag für die russische Verwaltung eine flüssige Gallenprobe abgeben. Der Gallensaft wurde durch einen Schlauch, welchen wir zu schlucken hatten, gewonnen. Damit wurde wohl Impfstoff hergestellt oder irgendwelche Versuche gemacht. Zur Belohnung für diese Tortour bekam jede Frau eine extra Bockwurst zur mittäglichen Kartoffelsuppe.

Ich war in meiner Kindheit und Jugend kaum jemals krank gewesen, doch nun ...
Wahrscheinlich war ich infolge der bei der Vertreibung erlittenen schweren Verletzungen und den ständigen Erkältungen aufgrund fehlender Wetterschutzbekleidung und geeigneten Schuhwerks einfach nicht mehr genügend wiederstandsfähig. Jedenfalls lag ich damals vier Monate, bis zum 21 Januar 1948, in der Isolier-Abteilung der Halleschen Universitätsklinik, und 6 Monate wurde ich durch eine Ärztekommission hinterher krank geschrieben.

Lange noch konnte ich vor Schwäche kaum laufen, und alle meine Kopfhaare hatte ich auch verloren. Mutter und Vater erging es genau so. Es dauerte lange, bis sie wieder nachgewachsen waren.
Wie wir später erfuhren, hatten wir bei alldem noch Glück. Denn den Bauchtyphus-Wellen der Nachkriegszeit sind sehr viele Menschen erlegen, die zusammengepfercht unter schlechten Hygienebedingungen hausen mussten. Die Sterberate liegt noch heute, bei viel besseren medizinischen Möglichkeiten, bei ein bis drei Prozent der Betroffenen.
Und am schlimmsten traf es damals die durch Verletzung, Hunger, Elend, Wohnungsnot, Verzweiflung und Verbitterung ohnehin geschwächten Heimat-Vertriebenen!

Wenn ich das schreibe, denke ich auch daran:
Weil es noch immer überall auf der Welt keinen Frieden gibt, müssen auch heute allerorts Millionen unter menschenunwürdigen Verhältnissen leiden und solche und andere Krankheiten erdulden.
Sollte es nicht möglich sein, die Unsummen, die nach wie vor für Waffen und Munition, also für die Vernichtung menschlichen Lebens, ausgegeben werden, zum Wohl von uns allen aufzuwenden?

Lydia Radestock, im Oktober 1994

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