Überraschender Besuch beim
Sonntagsfrühstück
Nach einer unruhigen Gewitternacht mit Blitz, Donner und rauschendem Regen
wollte ich am 1. Juli 2012 um 8 Uhr mein Sonntagsfrühstück auf dem Balkon
genießen und dabei dem Amselgesang lauschen.
Alles lief wie vorgesehen - dazwischen hörte ich auch noch ab und zu den
Kuckuck rufen, die Elstern schackern und unsere Teich-Frösche quaken.
Während meine Gedanken bei meiner Familie waren, schwirrte mir plötzlich
etwas um den Kopf herum. Ich griff zu. Es war ein verspäteter Juni-Käfer mit
hellbraunen Flügeln.
Vermutlich hatte er den Anschluss an die anderen Käfer zur Eiablage verpasst
oder keinen Partner gefunden - oder er wollte mir ganz einfach Gesellschaft
leisten.
Diese Käfer sind etwas kleiner als die Maikäfer. Ihre Entwicklungszeit nach
der Eiablage in der Erde dauert, genau wie bei Maikäfern, 4 Jahre. Erst als
fertige Insekten kommen sie dann an die Erdoberfläche, um sich zu vermehren.
In unserer Umgebung sind diese sowohl Mai- als auch Juni-Käfer in den
letzten Jahren selten geworden.
Als ich mir den lebhaften Störer etwas genauer besah, kamen plötzlich
Erinnerungen hoch - an meine 80 Jahre zurückliegende Kinderzeit in der
Heimat im Sudetenland.
Dort im Elbtal an der böhmischen Pforte wuchsen zehntausende Obstbäume, und
die Existenz vieler Leute war von guten Erträgen abhängig. Deshalb hatten
wir als Kinder auch im Frühling immer Beschäftigung: zur Kirschen-Reifezeit
galt es, durch lautes Klappern die Stare von unseren Kirschen verjagen, Mai-
und Junikäfer absammeln ...
Denn auch die vielen Käfer machten den Obstbauern viel Schaden: das Laub
mancher Kirschbäume war in einigen Jahren völlig kahl gefressen.
Durch das Baum-Schütteln am Morgen hatten wir schnell einige Schuhkisten
voller Käfer eingesammelt. Bei der Abgabe im Gemeindeamt gab es für die
kartonweise abgegebenen Tiere sogar Geld.
Auch an das Geflügelfutter wurden die Käfer untergemischt - die Hühner
freuten sich.
Ich erinnerte mich auch daran, dass die Jungs damals mit diesen krabbelnden
Gesellen Schabernack getrieben haben, um damit uns Mädchen zu erschrecken.
Sie pirschten abends durch das Dorf, um dann bei einer geöffneten
Mädel-Schlafkammer ganze Hand voll Käfer zum Fenster hinein zu werfen. Diese
schwirrten dann später alle in der Kammer umher - ganz so wie in der
Geschichte von Wilhelm Busch. Und am nächsten Morgen in der Schule tauschten
sie sich dann über ihre Heldentaten aus.
Ob heute noch ein Zehnjähriger auf solche Ideen käme? Warum auch –
Fernseher, Handy, PC, Disco oder Einkaufstempel locken weit mehr als das
Herumstromern in Wald und Flur.
Dass der Nachwuchs dabei immer unbeweglicher wird, in der Turnhalle keinen
einzigen Klimmzug mehr zu Stande bringt, im Klassenzimmer
Aufmerksamkeitsdefizite aufweist und manchmal gar zum Psychiater muss,
könnte sehr wohl genau mit diesem Verlust an Naturerfahrung zusammenhängen.
Was soll das bloß noch werden?
Lydia Radestock, im Juli 2012 |