Schornstein-Käuzchen
In der buschig bewaldeten Umgebung der Pathologie des Eisenhüttenstädter
Krankenhauses, Arbeitsort meines Mannes Günter, brüteten viele Jahre
lang Waldkäuze.
Das
war besonders im Januar unüberhörbar, wenn der Paarungsruf des
Waldkauzmännchens erklang. Das laute „hu hu hu huhuhuhu“ gleicht
bekanntlich dem wilden Gejohle eines sinnlos Berauschten und hat
vermutlich zu früherer Zeit kräftig zu den Spukgeschichten vom „Wilden
Jäger“ beigetragen. Es fehlt ja noch heute in kaum einem Kriminalfilm,
der im Wald oder in parkumsäumten alten Gebäuden spielt.
Oft hörte man auch ein weit schallendes „kuwitt“, was dem Waldkauz und
noch mehr seinem kleineren Verwandten, dem Steinkauz, vormals den ganz
unverdienten Ruf eines Totenvogels einbrachte, der den Menschen mit
seinem „komm mit“ ein baldiges Ende prophezeite. Dieser alberne und dem
vielverfolgten Eulengeschlecht so verhängnisvolle Aberglaube rührt
wahrscheinlich daher, dass früher in den Dörfern Krankenzimmer die
einzigen abends oder nachts erleuchteten waren. Der Lichtschein lockte
auch große Insekten wie Maikäfer, Hirschkäfer und Schmetterlinge an, die
den Käuzen als Beute dien¬ten. Wiederholte Kauzflüge und -rufe vor
solchen Krankenstuben dürften das Tier dann nach und nach in Misskredit
gebracht haben.
Im Sommer 1964 jedenfalls ruhten sich die Kauzeltern mit ihren flüggen
Jungen des öfteren auf dem Schornstein der Pathologie aus. Dabei sind
dann die beiden noch unbeholfenen Jungvögel eines Tages in den Schacht
gefallen. Die Vogeleltern lockten ihre Kinder wohl noch einige Tage,
aber den hohen glatten Schornstein zu erklimmen war den Vögeln nicht
möglich.
Als dann der Sektionsgehilfe, Herr Kinner, im Ofen ein Feuer entzünden
wollte, bekam er einen großen Schreck, als ihm von innen vier kleine
Lichter entgegen funkelten. Zuerst dachte er, man wollte sich einen
Scherz mit ihm erlauben.
Er holte seinen Kollegen Kiss dazu. Als sie mit einer Taschenlampe in
das Feuerloch hinein leuchteten und gründlich nachgesehen hatten,
bemerkten sie beide die Ursache: Eng aneinander geschmiegt saßen zwei
Käuzchenkinder ganz verschüchtert und verrußt im Ofen.
Behutsam wurden die Vögel heraus genommen und ihr Gefieder gereinigt.
Beide waren sehr geschwächt und verletzt.
Das eine Käuzchen hat durch seine inneren Verletzungen den Sturz nicht
lange überlebt. Nur der kräftigere Vogel konnte gerettet werden.Er hatte
sich außer dem Flügel auch seinen Schnabel beschädigt und erhielt
sogleich vom Fachpräparator Günter Radestock eine Art Ersatzschnabel aus
Plaste. Damit konnte er wenigstens weiche Nahrung aufnehmen und musste
nicht weiter mit einer Pinzette „gestopft“ werden.
Durch ihre Behinderung blieb die kleine Eule flugunfähig und konnte
nicht wieder in die Freiheit entlassen werden, um sich allein zu
ernähren.
Sie bekam in einem geräumigen, schön bepflanzten Fensterschacht des
Labors einen sicheren Aufenthaltsort mit Sitzstange. Unter Aufsicht
durfte sie bei während der Mittagspause bei schönem Wetter auf der Wiese
flatternd umher hüpfen. Trotz seiner Verletzungen lebte das sympathische
Tier auf diese Weise einige Jahre in menschlicher Obhut.
Von unseren Kindern Klaus und Petra, die ihn oft besuchten, wurde der
Vogel „Dunke-Julchen“ gerufen. Den Namen hat er wegen seiner ulkig
wirkenden duckenden Bewegungen bekommen.
Kürzlich habe ich erfahren, dass begonnen wurde, die Pathologie
abzureißen, weil an dieser Stelle jetzt ein Hubschrauberlandeplatz
gebaut wird. Bei dieser Gelegenheit fiel mir wieder das Ereignis mit dem
Käuzchen wieder ein.
Lydia Radestock, im Mai 2002 |