Schlangen-Furcht

Als ich Anfang Juni 2005 wieder einmal im Forsthaus am Frauensee zu Besuch war, konnte ich zwischen den Steinen in der Nähe des Gartenteiches eine Ringelnatter sehen, welche sich auf den warmen Steinen sonnte. Als ich näher kam, schlängelte sie sofort davon und verschwand im hohen Gras.

Ich musste bei diesem Erlebnis sofort an frühere Begegnungen mit Schlangen in meiner alten Heimat denken:

Bei uns Elbetal südlich von Aussig gab es ebenfalls Ringelnattern, jedoch noch mehr Kreuzottern. Da in der Landbevölkerung immer wieder von Schlangenbissen mit tödlichem Ausgang berichtet wurde, mussten wir Kinder bei unseren Streifzügen in der Umgebung sehr vorsichtig sein und durften uns nicht sofort hinsetzen. Die Eltern schärften uns immer wieder ein, besonders an den Feldrändern und den dort aufgeschütteten Steinwällen gut acht zu geben. Und mehr noch: Wir bekamen vom Gemeindeamt für jede abgelieferte tote Kreuzotter einige Kronen.
Weniger wurden es durch diese Verfolgungen allerdings nicht, weil - der Lebensraum war ideal: Kleinflächige gegliederte Landnutzung mit zahlreichen steinernen Trockenmauern als Versteck und eine reiche Kleintierwelt als Nahrung ... Da mussten noch keine Naturschutzgebiete mit totalem Betretungs- und Nutzungsverbot ausgewiesen werden!

Ich hatte selbst mehrere, aber immer harmlose Begegnungen mit diesen Kriechtieren. Meine Großmutter jedenfalls führte bei der Feldarbeit stets ein scharfes Taschenmesser mit sich, um nach einem Schlangenbiss sofort einen kleinen Schnitt machen zu können - dazu auch einen Bindfaden, womit man oberhalb der Bissstelle abbinden konnte. Denn der nächste Arzt wohnte ja weit weg in der Stadt. Und so schnell kam man nicht dort nicht hin; es gab ja kaum Autos.

Ich denke heute: Die Schlangen-Angst der Leute war wohl auch schon damals stärker als der Verstand! Waren es früher die Schlangen, Wölfe, Spinnen, Fledermäuse oder Eulen, die man aus verschiedenen, oft über Jahrhunderte überlieferten Gründen fürchtete, so ist es derzeit wohl vor allem alles Kleine, Unsichtbare: das Atom, das Gen, das Virus ... und natürlich auch das in satten Wohlstandsjahren mühsam Verdrängte: menschliche Bosheit, Armut, Krankheit, Tod ...

Der Unterschied ist: Wir hatten früher weniger Zeit, uns unseren Ängsten hinzugeben, und weniger „Medien“ oder Geschäftemacher, die sie noch anfachten und potenzierten. Und deshalb fehlte uns damals das, was die heutige Panik- und Frustgesellschaft mitunter so unangenehm hektisch-aktionistisch macht und mitunter sogar jede Entwicklung lähmt: Die Angst vor der Angst!

Brauchen Menschen Angst oder Furcht, um leben zu können? Und wenn nicht: Warum tun sie sich das bloß ständig an?
 

Lydia Radestock, im Juli 2005

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