Ein rotes Tuch?
Bei meinen Aufenthalten im Forsthaus am Frauensee habe
ich mich mit den vielen Amseln, die dort im Garten und umliegenden Wald
leben, immer recht gut verstanden. Sie waren meist sehr zutraulich zu
mir und kamen auch in meine unmittelbare Nähe, um nach Futter für
ihre Jungen zu suchen.
Als ich mir eines Morgens im Hochsommer meine Morgenzeitung aus dem Briefkasten
holte, wollte ich diese Lektüre im Gartenstuhl vor dem kleinem Teich
sitzend lesen und zwischendurch immer mal nach den Fröschen im Gartenteich
sehen. Ich musste nämlich erfahren, ob die grünen Gesellen auf
ihrer "Wetterwurzel" sitzen - ich brauchte viel Sonne für
meine Wäsche, welche ich im Garten trocknen wollte. Man will ja in
den Urlaub nicht soviel Sachen mitnehmen und lieber zwischendurch etwas
auswaschen!
Weil es noch kühl war (und wegen der Mücken), zog ich mir noch
meine leichte rote Strickjacke an. Ich hatte kaum angefangen zu lesen,
da kam eine Amselmutter geflogen und fing an zu schimpfen. Immer wieder
flog sie nahe an mir vorüber, denn ich saß mit meinen Zeitungen
an der Einfugschneise zu ihrem Nest. Wenn ich raschelnd umblätterte,
ging das Gezeter erst richtig los.
Schon öfter hatte ich bemerkt, dass, wenn ich draußen etwas
Rotes an Leibe trug (eine Bluse zum Beispiel), das Geschimpfe der Amseln
manchmal einfach kein Ende nahm. An diesem Tage war ich nun sicher, dass
es diese auffällige rote Farbe sein müsste, welche die Tiere
störte. Denn: Wenn ich gedämpftere Kleidung angelegt hatte,
waren die Vogelmütter viel ruhiger und suchten auch in meiner Nähe
das Futter für ihre Jungen.
Übrigens erging es mir mit dieser roten Jacke am
Abend darauf bei dem Rehbock, welcher auf der nahen Waldwiese mit seiner
Ricke zum Äsen kam, ähnlich: Das Tier schreckte laut (das klingt
ein wenig wie Hundegebell) und schon auf große Entfernung. Näherte
ich mich ihm in den Folgetagen dann grün oder braun gekleidet, konnte
ich etwas näher an ihn heranlaufen.
Sollte an dem berühmten "roten Tuch" etwas
dran sein - nicht bloß für Stiere?
Lydia Radestock, im Juli 2002
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