Martinstag

Vor ein paar Tagen hörte ich sehr spät abends die Wildgänse über Eisenhüttenstadt schreien. Wie der Presse zu entnehmen war, stärken sich die Tiere zum Leidwesen der Bauern zu Hunderten auf den Feldern der Umgebung für ihren Weiterflug.

Angesichts dieses lauten Geschnatters dachte ich bei mir: Bald ist Martinstag! Und mir fiel bei diesem Wort zuerst die Gänseszene im Film „Die Heiden von Kummerow“ ein - der Sohn des Kleinbauern solle eine gewollt magere Gans zum Pastor bringen, und tauschte sie, weil ihm das peinlich war, vorher bei demselben heimlich gegen eine fette um.

Was aber hat es wirklich mit dem Martinstag auf sich; wer war der berühmte Martin?
Ich habe im Lexikon nachgeschaut und folgendes herausgefunden: Der 316 am 11.11. in Ungarn geborene römische Legionär schied nach drei Jahren Kriegsdienst im Alter von 18 Jahren aus der Armee aus und lebte dann als Einsiedler und Klosterbruder bei Genua. Als er später Bischof wurde, gründete Martin das Kloster von Tours (heute Frankreich); er war ein beliebter menschenfreundlicher Geistlicher, der auch manch Wunder vollbracht haben sollte. Einer Legende nach hat er einst seinen Mantel in zwei Stücke gerissen (oder, weil das martialischer klingt, mit dem Schwert zertrennt), um ihn mit einem frierenden Bettler zu teilen – er ist deshalb seitdem auch ein Symbol für Mildtätigkeit. Bei meinem letzten Besuch der „Alten Meister“ im Dresdener Zwinger habe ich diese Szene auf einem großen Gemälde vorgefunden.
Am 11.11. 387, zu seinem Namenstag „Martin", wurde dieser Mann beerdigt und später heilig gesprochen.

In der Folgezeit entwickelte sich der 11. November im Rahmen des christlichen Glaubens zum Tag des Sankt Martin, des Schutzheiligen der Armen, Reiter und Soldaten. Er wird in katholischen Gegenden noch heute als Feiertag begangen, an dem u.a. die Kinder mit Laternen durch die Umgebung ziehen.

Der Martinstag war früher aber noch aus einem anderen Grunde ein wichtiger: Es war der Zins- und Steuertermin für das vergangene Jahr, an dem geistliche und weltliche Herren u.a. ihre „Martinsgänse" als Zinsgans oder Jahresabgabe erhielten.
Aber auch das frühere 40tägige Weihnachtsfasten, der heutige Fasching (Fastnacht=Fasching?), beginnt an „Martini“, und zwar pünktlich um 11.11 Uhr. An diesem Tag geben bekanntlich die Bürgermeister vieler Orte traditionell im Beisein der Bevölkerung vor der Stadtverwaltung den Rathausschlüssel (und somit die Macht) an das Faschingsprinzenpaar und die gesamte Narrschaft ab.

Ich freue mich jedenfalls auch in diesem Jahr auf den Martinstag und habe mir diesmal vorgenommen, meine Nachbarn pünktlich um 11.11 Uhr mit ein paar Pfannkuchen zu überraschen – vielleicht stimmen sie sogar in ein gemeinsames „Hellau“ mit ein?!

Die größte Freude wäre jedoch für mich, wenn auch an diesem Tage die Wildgänse über der Stadt rufen würden. Es klingt in ihren Stimmen etwas Unbeschreibliches, zugleich sehr Trauriges und Wunderschönes an! Und Fernweh packt mich ...

Lydia Radestock, im November 2002

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