Klaus und das Hallesche Thaer-Viertel

Vor einigen Tagen erhielt ich von meinem Sohn Klaus per Mail ein Foto mit der Bemerkung: „Mutti, weißt Du wo, das ist?“ Das Bild zeigte ein schmuckes, offensichtlich gerade renoviertes Gebäude.

Ich musste nicht lange überlegen: Es war das Haus in der Saalestadt Halle, in dem ich mit meinen Eltern in den 50ern des vergangenen Jahrhunderts fast 10 Jahre gewohnt hatte, nachdem wir unser Flüchtlingslager verlassen konnten.

Damals jedoch trugen alle diese Häuser ein einheitliches Schwarzgrau. Die verschmutzte Luft des riesigen Industriegebietes Halle-Leuna-Bitterfeld hatte das bewirkt. „Teer-Viertel“ sagten die Besucher zu unserer neuen Heimat.
Auf den Straßenschildern der Gegend stand aber eigentlich „Thaer-Viertel“. Das Wohngebiet war in den „Gründerjahren“ des 19. Jahrhunderts erbaut und nach einem berühmten Landwirt bezeichnet worden, welcher auch das in der Nähe befindliche Landwirtschaftliche Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg begründet hatte. Wahrscheinlich ist es ursprünglich vor allem für die Angestellten und Arbeiter des Instituts und der angeschlossenen Güter bestimmt gewesen.

Einmal abgesehen von Schmutziggrau des bröckelnden Putzes und dem Ruß auf der zum Trocknen aufgehängten Wäsche - man konnte sich wohlfühlen im Thaerviertel!
Viele Gebäude waren als Reihenhäuser angelegt, hatten also eigene Aufgänge und Gärten nach von sowie hinten – fast wie kleine Villen. Flieder blühte, Robinien, Kastanien und Linden rauschten, Hühner gackerten, Stallhasen mümmelten vor sich hin ... Schmale, nur für Fußgänger gedachte Durchgänge durchquerten die „verschachtelt“ gebaute Siedlung, mündeten auf lauschigen Plätzen oder an kleinen Parks und strahlten Geborgenheit, Nähe, Miteinander ... aus.
Es war eine nahezu dörfliche Idylle am Rande der Großstadt - und das mit städtebaulichen Motiven, die an die Kleinstadtbilder des Malers Spitzweg erinnerten.
Meine Familie und ich haben dieses „verwunschene Wohnen“ übrigens später in Eisenhüttenstadt mehr und mehr vermisst, seit hier besonders ab den 70ern und 80ern in weiten Abständen zugig aufgestellte riesige „Neubaukästen“ dominierten. Gott sei Dank konnten wir jedoch anfangs in einem älteren und auch viel schöneren Teil der „ersten sozialistischen Stadt“ wohnen!

Mein Sohn Klaus verbrachte in diesem Halleschen Thaer-Viertel zusammen mit seiner Nachbars-Freundin Hannelore und vielen anderen Spielkameraden eine Kindheit, die er nie vergessen konnte:
Abendliches Räuber-und-Gendarm-Spielen, Haschen oder Verstecken im Gewirr der unzähligen Torbögen und Treppenaufgänge, Pflastermalen, Kreiseln oder Hopse auf heißem Asphalt, Drachensteigen oder Holzflugzeug-Start in der Weite der benachbarten Gutsfelder, Tiere-erleben in den Vorgärten und dem Gemüsegarten der Großeltern, Züge-zählen und Rangieren-beobachten auf den benachbarten riesigen Bahnanlagen der Großstadt ...
Auch als er dann im Schüleralter schon in Eisenhüttenstadt wohnte, verzichtete Klaus stets auf`s Ferienlager und trat Urlaubsreisen nur widerwillig an, nur um ja die Sommerferien im Halleschen Thaerviertel bei seinen Großeltern (welche leider inzwischen verstorben sind) verbringen zu können. Einmal, er war gerade 11, ist er sogar von daheim ausgebüxt, nur um an die Stätte seiner frühen Kindheit und zu den alten Freunden zu gelangen: Er schwang sich nach Mitternacht auf sein Fahrrad und legte die über 200 km Entfernung zwischen Eisenhüttenstadt und Halle in 23 Stunden zurück!

Das Thaer-Viertel und seine faszinierenden, durchaus widersprüchlichen Anregungen waren es denn auch, die den Berufsweg meines Sohnes vorzeichneten: Zunächst wollte er durchaus Lokführer werden. Doch dann war für ihn, angeregt durch die vielen Naturerlebnisse seiner Kindheit und die unzähligen, oft von seinem Opa Franz betreuten Besuche im wunderschönen Halleschen Bergzoo, eines Tages klar: Wenn ich groß bin, möchte ich Zoodirektor sein! Tatsächlich ist er dann später Förster geworden, und man hat mir gesagt, ein guter. Heute leitet er das brandenburgische Haus des Waldes und ist zuständig für die forstlichen Dienstaufgaben Waldpädagogik (waldbezogene Bildungs- und Erziehungsarbeit) und Artenschutz eines ganzen Bundeslandes.

In der Stadt Halle Saale hat sich seit der Wende 1989 inzwischen vieles zum Positiven verändert – ihr Kern ist mit den noch mittelalterlich gewundenen Straßen und vielen Fußgängerzonen durchaus sehenswert. Aber wenn mein Sohn in dieser Stadt unterwegs ist (oder auch nur die Autobahn Berlin-München passiert), nutzt er jede Gelegenheit, „sein“ Thaer-Viertel aufzusuchen.
Es ist ihm wohl ebenso Heimat (also liebenswerter vertrauter unwiederbringlicher einzigartiger ... Ort) geworden wir mir mein Elbetal an der Böhmischen Pforte im Sudetenland.


Lydia Radestock, im März 2004

zurück