„Frühstücksplatz“ im Winter

Nun hat der Winter auch in meiner neuen Heimat, dem Dahmeland südöstlich von Berlin, seinen Einzug gehalten. Alles ist weiß - die Erde, Bäume und Dächer der Häuser sind mit einer dicken Schneedecke bedeckt. Draußen herrschen tiefe Minusgrade.

Weil ich als Rentnerin gehbehindert bin und mich - besonders bei Schneeglätte - auf der Straße und im Park beim Spaziergang nicht mehr sicher fühle, sitze ich derzeit gern in meiner Lieblingsecke, dem „Frühstücksplatz“, auf der Couch und schaue nach draußen.

Täglich kommen jetzt Meisen auf meinen Balkon und holen sich das im Blumentopf unter dem Weihnachtsbaum bereitgestellte Winterfutter. Ich habe es mit flüssigem Rindertalg, Sonnenblumenkernen, Walnüssen und Haferflocken zurecht gemacht, in ein Gefäß gefüllt und erkalten lassen. Die Tiere (meist sind es Kohlmeisen, aber auch Blau- und Spechtmeisen sehe ich öfter) kommen immer einzeln und warten geduldig auf den Ästen der kleinen Kiefer oder dem Geländer, bis sie sich - eine nach der anderen - das Futter holen können. Mache picken es nicht gleich auf, sondern fliegen damit in den nahegelegenen Park, um in Ruhe fressen zu können. Mein Sohn, der Förster, sagte mir dazu, dass die Meisen sich auf diese Weise kleine Winterverstecke in Borkenritzen und im Wurzelbereich der Bäume anlegen, um für Notzeiten (wenn es lange stürmt und schneit oder Glatteis gibt) gerüstet zu sein – sie betreiben also „Hamsterwirtschaft“.
Einen schönen Ausblick habe ich nun bis zum gegenüber liegendem Teich, welcher sich mitten im Park an unserer Wohnsiedlung befindet. Er wird mir jetzt zur Winterszeit nicht vom Laub der Bäume und Sträucher versperrt, auch wenn etliche Parkbäume bis zu den Kronen hoch mit Efeu bewachsen sind.
Durch den anhaltenden Frost hat sich auf dem Gewässer eine glatte, geschlossene Eisdecke gebildet. Jeden Tag kommen nun Kinder herbei und tummeln sich schliddernd, Schlittschuh laufend und Eishockey spielend auf dem Eis herum. Manchmal bricht auch eines durch, aber das ist bei der geringen Tiefe des Teichs nur unangenehm, nicht lebensgefährlich – deshalb gibt es dann nur Gelächter, keine Angstschreie.
Weil auf den angrenzenden Straßen Laternen bis aufs’ Ufer leuchten, wird diese Eisfläche von Jugendlichen oftmals bis zum späten Abend genutzt.

Gern schaue ich durch die Balkontür zwischen den Baumlücken diesem Getümmel zu und muss dabei manchmal an meine Jugend denken: Wie auch ich damals auf unserem vereisten Dorfteich mit anderen Kindern fröhlich und vergnügt herumschlidderte, und dann abends nass, zerschrammt, aber glücklich heimkehrte.
Gegen 70 Jahre ist das jetzt her – wo ist bloß die Zeit geblieben?

Lydia Radestock, im Januar 2004

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